· 

Die SHARE-Technik: Wie man die Maturaarbeit an das KI-Zeitalter anpasst

Einleitung

Mit der fortschreitenden Verbreitung KI-gestützter Tools – von ChatGPT über Claude bis hin zu NotebookLM – stehen Schulen und insbesondere Gymnasien vor neuen Herausforderungen. Wie können Maturaarbeiten so konzipiert werden, dass sie einerseits die Möglichkeiten von KI sinnvoll nutzen und andererseits eine eigenständige, akademisch fundierte Leistung der Lernenden garantieren?

Die sogenannte SHARE-Technik [1] bietet hierfür einen strukturierten Ansatz. Sie unterstützt Lehrpersonen dabei, Aufgabenstellungen und Bewertungskriterien gezielt an die Bedingungen des KI-Zeitalters anzupassen.

SHARE steht für:

  1. Stärkere Authentizität
  2. Hoher Preis für Falschinformationen
  3. Anderweitige Bewertungstechniken
  4. Reflexion und kritische Analyse
  5. Erweiterung der Aufgabe in mehrere Teile

Der folgende Blogartikel zeigt, wie diese Prinzipien konkret auf die Maturaarbeit angewendet werden können. Dabei werden Beispiele aus einer aktuellen Analyse zum KI-Einsatz in Maturaarbeiten (siehe „Künstliche Intelligenz als Werkzeug und Herausforderung: Eine Analyse der Auswirkungen auf Erstellung und Bewertung der Maturaarbeit“ von Boris Ehret) herangezogen.

 



[1] Brent A. Anders (2023): The AI Literacy Imperative: Empowering Instructors & Students, Independently published.

 

1. Stärkere Authentizität (S)

Warum ist das wichtig?

Realitätsnahe Themen und eine praxisorientierte Aufgabenstellung erschweren den blossen „Copy & Paste“-Einsatz von KI-Texten. Insbesondere bei Maturaarbeiten, die oft auf Eigenforschung und selbst entwickelte Fragestellungen setzen, muss die Authentizität der Arbeit im Vordergrund stehen.

Wie kann das umgesetzt werden?

 

  • Praxis- und Forschungsbezug des Themas
    Maturaarbeiten sollten vermehrt Primärforschung (z.B. eigene Datenerhebungen, Interviews, Experimente) einschliessen, damit die Lernenden aktiv in Kontakt mit der Realität treten. Eine KI kann Recherchen erleichtern, aber die eigenständige praktische Durchführung und Auswertung bleibt den Lernenden vorbehalten.
  • Anbindung an persönliche Interessen und Kontroversen
    Themenwahl sollte originell und komplex genug sein, um individuelle Denkprozesse anzuregen. So wird vermieden, dass KI-Tools rein formale Arbeiten generieren.
  • Projektjournal als Dokumentation des Arbeitsprozesses
    Um zu zeigen, welche Recherchen und Reflexionen „authentisch“ erbracht wurden, empfiehlt sich ein verpflichtendes Projektjournal. Hier dokumentieren Lernende regelmässig ihre Fortschritte, Entscheidungen und – ganz wichtig – ihren KI-Einsatz.

2. Hoher Preis für Falschinformationen (H)

Warum ist das wichtig?

KI-Modelle können sogenannte „Halluzinationen“ generieren – d. h. Inhalte, die plausibel klingen, aber faktisch falsch oder frei erfunden sind. Damit die Qualität von Maturaarbeiten nicht leidet, müssen Unschärfen, falsche Quellennachweise oder unkritisch übernommene KI-Inhalte klar sanktioniert werden.

Wie kann das umgesetzt werden?

 

  • Strenge Bewertung von Fehlern und Quellenangaben
    Sprachliche Aspekte wie Rechtschreibung oder Formatierung sollten in der Bewertung zurückgestuft werden. Dafür müssen Faktenfehler und unplausible Quellen umso stärker gewichtet werden. Ein falsches Zitat oder ein fehlender empirischer Nachweis soll in Zukunft sehr deutlich in die Note einfliessen.
  • Verifizierung jeder genannten Quelle
    Lernende müssen klar darlegen, wie sie auf bestimmte Informationen gestossen sind – ob über eine Datenbank, ein Lehrbuch oder ein KI-Tool. Diese Quellenprüfungen müssen überprüfbar bleiben (z. B. durch Links auf wissenschaftliche Artikel oder Bibliotheksdatenbanken).
  • Ethische Reflexion
    Falschinformationen können auch unbewusst eingeschleust werden. Daher lohnt es sich, innerhalb des Projektjournals oder in einem gesonderten Kapitel zu diskutieren, wie die Zuverlässigkeit KI-basierter Angaben geprüft wurde.

3. Anderweitige Bewertungstechniken (A)

Warum ist das wichtig?

Bisher dominierten bei der Maturaarbeit (oder vergleichbaren Projektarbeiten) vor allem Textprodukte, die schriftlich eingereicht und korrigiert wurden. KI-Tools sind in der Lage, diese Textprodukte weitgehend zu optimieren. Um jedoch die Eigenleistung und das tatsächliche Verständnis zu erfassen, schlagen viele Expert*innen alternative oder ergänzende Prüfungsformen vor.

Wie kann das umgesetzt werden?

 

  • Erhöhte Gewichtung der mündlichen Verteidigung
    Die schriftliche Arbeit könnte künftig nur noch ein Drittel der Gesamtnote ausmacht, während die mündliche Verteidigung zwei Drittel zählen sollte. So wird das tatsächliche Fachverständnis und das eigenständige Denkvermögen in den Vordergrund gerückt.
  • Projektjournal als Teil der Note
    Durch die prozessorientierte Bewertung wird ein genauer Einblick in die methodische Vorgehensweise und den KI-Einsatz möglich. Das Journal dient nicht nur als Dokumentation, sondern wird aktiv in die Benotung einbezogen.
  • Kombination aus schriftlicher Ausarbeitung und Präsentation
    Eine zusätzliche Frage-Antwort-Runde nach der Präsentation verhindert, dass sich Lernende ausschliesslich auf KI-generierte Inhalte verlassen können. Das Format erinnert an wissenschaftliche Kolloquien und fördert die Diskussionsfähigkeit.
  • Kreative Formate
    Abhängig vom jeweiligen Fach kann die Maturaarbeit auch Formate wie Videos, Podcasts oder interaktive Poster umfassen. Entscheidend ist, dass die Umsetzung individuell reflektiert wird und die Lernenden ihr Vorgehen transparent machen.

4. Reflexion und kritische Analyse (R)

Warum ist das wichtig?

Gerade im Zuge der KI-Integration sollten Maturand*innen ihren eigenen Lernprozess kritisch hinterfragen: Was habe ich selbst geleistet? Wo habe ich mich auf KI verlassen? Welche Vor- und Nachteile ergeben sich daraus für meine Arbeit?

Wie kann das umgesetzt werden?

  • Verpflichtende Reflexionspassagen
    Die Einbindung einer Reflexionsaufgabe nach Abgabe oder Verteidigung der Arbeit fördert ein Bewusstsein für die Stärken und Schwächen des KI-Einsatzes. Lernende sollen explizit darlegen, an welchen Stellen sie KI nutzten (indirekt zur Ideenfindung oder direkt zur Generierung von Textteilen) und welche Konsequenzen das für ihre Ergebnisse hatte.

Ethische Auseinandersetzung
Aspekte der akademischer Integrität und Verantwortung beim KI-Einsatz müssen umfassend reflektiert werden. Die Lernenden sollen erkennen, wo legitime Unterstützung endet und unzulässige Fremdleistung beginnt.

5. Erweiterung der Aufgabe in mehrere Teile (E)

Warum ist das wichtig?

Eine Maturaarbeit im KI-Zeitalter besteht idealerweise aus mehreren klar definierten Phasen, die jeweils einzeln bewertet werden können. Dadurch kann die Lehrperson nachvollziehen, wie sich die Arbeit entwickelt und woher die Ideen stammen – gerade wenn KI involviert ist.

Wie kann das umgesetzt werden?

 

  • Schrittweiser Forschungsprozess
    Lernenden sollten erst Themenwahl und Forschungsfragen einreichen, dann ein Exposé oder eine Gliederung, gefolgt von Zwischenpräsentationen und dem finalen Dokument. So entsteht eine Chronologie der Arbeits- und Denkprozesse.
  • Versionierung mit KI-Kommentaren
    Werden Tools wie Google Docs genutzt, kann mittels „Track Changes“ oder Protokollfunktionen exakt nachvollzogen werden, in welchen Teilen eine KI tätig war. Lernende können diese KI-Schritte markieren und kommentieren, um ihren Entscheidungsweg offenzulegen.
  • Peer-Feedback und Projektjournal
    In jeder Phase können Peers oder Lehrpersonen Feedback geben, das im Projektjournal festgehalten wird. Diese sukzessive Begleitung erschwert ein rein oberflächliches „Abgeben“ von KI-Texten kurz vor der Frist.

Fazit

Die SHARE-Technik bietet ein praxiserprobtes Framework, um Maturaarbeiten und ihre Bewertung an das KI-Zeitalter anzupassen. Wichtig ist dabei die konsequente Verbindung von authentischen Themen, klaren Sanktionen bei Falschinformationen, alternativen Bewertungstechniken, kritischer Reflexion und prozessbezogener Aufgabenstruktur.

So wird nicht nur verhindert, dass Maturand*innen KI-Inhalte unreflektiert übernehmen, sondern zugleich sichergestellt, dass sie autonome, wissenschaftlich fundierte Kompetenzen entwickeln. Durch verpflichtende Projektjournale, erweiterte mündliche Verteidigungen und schrittweise Nachvollziehbarkeit der Entstehung einer Arbeit entsteht eine Kultur des bewussten Umgangs mit KI.

 

Anstatt KI als Bedrohung zu sehen, kann sie gerade in der Maturaarbeit zu einer Chance werden, Lernende mit aktuellen Technologien vertraut zu machen und sie gleichzeitig in kritischem Denken, kreativem Problemlösen und wissenschaftlicher Integrität zu schulen.

Tipp für Lehrpersonen

  • Nutzen Sie selbst KI-Tools, um Ideen für methodische Erweiterungen zu sammeln.
  • Erarbeiten Sie klare Leitlinien (z. B. direkte vs. indirekte KI-Nutzung) und machen Sie diese den Lernenden transparent.
  • Ergänzen Sie das Projektjournal um konkrete Reflexionsfragen zum KI-Einsatz, damit Lernende einerseits dessen Vorteile nutzen, aber andererseits auch die Grenzen und Risiken erkennen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0