Warum wir glauben, schon genug zu wissen
Kaum etwas fühlt sich so gut an wie der Moment, in dem wir glauben, etwas „kapiert“ zu haben. Ein neues digitales Tool ausprobiert oder ein Video geschaut – und schon stellt sich das trügerische Gefühl ein: „Ich hab’s drauf.“
Doch genau dieses Gefühl kann zur grössten Lernbremse werden. Denn was wie Sicherheit wirkt, ist oft nichts anderes als ein Irrtum – die Illusion, bereits kompetent zu sein, obwohl man gerade erst an der Oberfläche kratzt.
Dieses Phänomen hat einen Namen: Dunning-Kruger-Effekt. Es beschreibt, warum gerade Menschen mit wenig Wissen in einem Bereich ihre Fähigkeiten massiv überschätzen – und warum das in Zeiten von schnellen Antworten und scheinbarer Informationsfülle zu einer echten Herausforderung wird. In einer Welt voller „Google-Wissen“, Tutorials und scheinbarer Selbstlernkompetenz, ist die Angst vor echter Expertise zu einer stillen Bremse geworden. Sie hindert uns daran, weiterzulernen, uns infrage zu stellen – und letztlich wirklich kompetent zu werden.
Was ist der Dunning-Kruger-Effekt?
Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt eine doppelte Verzerrung unserer Selbstwahrnehmung:
- Menschen mit geringer Kompetenz überschätzen ihre Fähigkeiten, weil ihnen das Wissen fehlt, das notwendig wäre, um die eigene Inkompetenz zu erkennen.
- Menschen mit hoher Kompetenz unterschätzen sich oft, weil sie davon ausgehen, dass andere ebenso viel wissen wie sie.
Diese kognitive Verzerrung wurde 1999 von den Psychologen David Dunning und Justin Kruger beschrieben und seither in zahlreichen Studien bestätigt. Ob beim Autofahren, in der Geldanlage oder bei der Einschätzung sozialer Fähigkeiten – Menschen neigen dazu, sich besser als der Durchschnitt einzuschätzen. Mathematisch unmöglich, psychologisch sehr real.
Die Verlockung der Oberfläche
Gerade in der digitalen Welt zeigt sich der Dunning-Kruger-Effekt besonders deutlich. Viele Tools und Technologien wirken auf den ersten Blick intuitiv und einfach. Wer einmal ChatGPT benutzt hat, glaubt vielleicht, KI zu „verstehen“. Wer eine Präsentation mit Canva erstellt, fühlt sich „designkompetent“. Doch die Tiefe – etwa ethische Fragen, Datenstrukturen, Designprinzipien – bleibt unsichtbar.
Diese scheinbare Leichtigkeit täuscht über die Komplexität hinweg – und sorgt dafür, dass viele nicht mehr nachfragen, nicht mehr tiefer gehen. Warum weiterlernen, wenn ich mich schon kompetent fühle?
Die Angst vor echter Expertise
Hinter dem Dunning-Kruger-Effekt verbirgt sich oft etwas, das selten thematisiert wird: eine tiefere Angst vor echter Expertise. Denn:
- Kompetenz bedeutet Verantwortung. Wer sich wirklich auskennt, muss auch bewusst entscheiden und handeln – das macht verletzlicher.
- Kompetenz bedeutet Demut. Je mehr wir wissen, desto klarer wird uns, wie viel wir noch nicht wissen. Diese Einsicht kann verunsichern.
- Kompetenz ist unbequem. Sie erfordert Zeit, Anstrengung und oft das Eingeständnis, dass wir falsch lagen.
Stattdessen bleiben viele lieber auf dem „Gipfel der Selbstüberschätzung“ – jenem Punkt auf der berühmten Dunning-Kruger-Kurve, an dem man glaubt, alles verstanden zu haben, obwohl man gerade erst begonnen hat.
Wie wir die Illusion durchbrechen können
Wenn wir uns entwickeln wollen – beruflich, persönlich, gesellschaftlich –, müssen wir lernen, mit unserer eigenen Begrenztheit umzugehen. Hier sind drei Schritte, die helfen können:
- Reflexion statt Rechthaben
Bin ich wirklich kompetent? Wo könnte ich mich überschätzen? Schon diese Fragen öffnen den Raum für ehrliche Auseinandersetzung.
- Feedback suchen – und annehmen
Andere sehen oft klarer, was wir selbst nicht erkennen. Externes Feedback, ob durch Kolleg*innen, Freund*innen oder Mentor*innen, kann blinde Flecken sichtbar machen.
- Wissensdurst kultivieren
Lernen endet nie. Wer sich selbst als „ewige*r Lernende*r“ versteht, bleibt beweglich – und entgeht der Selbsttäuschung.
Der Dunning-Kruger-Effekt in der Gesellschaft
Besonders kritisch wird der Effekt, wenn er sich in öffentlichen Debatten, Führungsetagen oder Medien zeigt. Menschen mit geringer Sachkenntnis sprechen laut und selbstsicher – und werden deshalb gehört. Expert*innen hingegen äussern sich differenziert, vorsichtig und mit vielen „Es kommt darauf an“ – und werden überhört.
Das hat Folgen:
- Fehlentscheidungen auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene.
- Polarisierung durch vermeintliche Gewissheiten.
- Wissensresistenz in einer Zeit, die eigentlich Offenheit verlangt.
Gerade deshalb ist es wichtiger denn je, die Mechanismen des Dunning-Kruger-Effekts zu verstehen – und ihn nicht als Schwäche, sondern als Chance zur Entwicklung zu sehen.
Fazit: Kompetenz ist leise – und wertvoll
Die Angst vor Expertise ist kein individuelles Versagen, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Sie entsteht dort, wo Bequemlichkeit, Unsicherheit und Selbsttäuschung aufeinandertreffen. Der Dunning-Kruger-Effekt erinnert uns daran, demütig zu bleiben, wo wir uns sicher fühlen, und neugierig zu sein, wo wir glauben, schon genug zu wissen.
Echte Kompetenz zeigt sich nicht im schnellen Urteil, sondern im ruhigen Fragen. Nicht im lauten Auftreten, sondern im ehrlichen Zweifeln. Und genau das ist vielleicht die wichtigste Kompetenz in einer komplexen Welt: die Fähigkeit, sich selbst infrage zu stellen.
Kommentar schreiben