Die Maturität soll ein gerechter, ganzheitlicher und anspruchsvoller Abschluss sein. Doch wenn wir genau hinschauen, zeigt sich ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen dem Aufwand, den Schüler*innen in verschiedenen Fächern betreiben müssen – und dem Ertrag, den sie dafür in Form von Noten erhalten. Dieses Ungleichgewicht wird durch den Einzug von KI-Tools in den Schulalltag weiter verschärft. Und es stellt uns vor eine unangenehme, aber notwendige Frage: Wen fördern wir mit dem aktuellen System eigentlich wirklich?
Ein Vergleich: Französisch vs. Zweistundenfach
Nehmen wir das Beispiel Französisch. Die Note, die schlussendlich im Maturadiplom steht, setzt sich zusammen aus:
- Rund fünf bis sieben schriftlichen Prüfungen in der sechsten Klasse
- Mindestens zwei mündlichen Prüfungen im Abschlussjahr
- Einer dreistündigen schriftlichen Maturaprüfung
- Einer 15-minütigen mündlichen Maturaprüfung, in der mehrere Lektüren souverän beherrscht werden müssen
Der Aufwand für die Schüler*innen ist hoch, die Anforderungen breit und vertieft – genau wie es sein sollte in einem Maturafach.
Dem gegenüber stehen Zweistundenfächer, in denen keine Maturaprüfung stattfindet. Die Schüler*innen absolvieren weniger Prüfungen und erhalten am Ende dennoch eine Note, die gleich stark in den Maturadurchschnitt eingeht. Eine ungenügende Note im aufwändigen Französisch kann also durch eine solide Leistung in einem stundentechnisch weniger dotierten Fach kompensiert werden. Nicht, weil das eine Fach „wichtiger“ wäre als das andere – sondern schlicht, weil das System es so rechnet.
KI verschärft das Ungleichgewicht
Bisher liess sich dieser Effekt als Nebenwirkung eines Systems abtun, das halt nie ganz fair sein kann. Doch mit dem Einzug von KI-Tools wie ChatGPT, DeepL Write oder KI-gestützter Recherchedienste hat sich die Dynamik verändert. Besonders sichtbar wird das bei der Maturaarbeit.
Was früher monatelange Arbeit erforderte – Themenfindung, Fragestellung, Literaturrecherche, sprachliche Ausarbeitung – lässt sich heute mit geschicktem Einsatz von KI-Tools in wenigen Tagen erledigen. Die Maturaarbeit wird damit nicht unbedingt oberflächlich – aber sie wird für gewisse Schüler*innen viel effizienter produzierbar. Vor allem für jene, die ohnehin mit dem „Minimalprinzip“ durchs Gymnasium gehen: möglichst grosser Notenertrag mit möglichst geringem Aufwand.
Mit anderen Worten: Wer das System durchschaut und effizient nutzt, kann heute mit einer clever erstellten Maturaarbeit eine schwache Französisch- oder Mathematik-Note „ausglei-chen“ – und das ohne das gleiche Engagement, das das andere Fach über zwei Jahre hinweg gefordert hätte.
Fördern wir die Falschen?
Hier liegt der Kern des Problems: Wenn wir die Spielregeln nicht anpassen oder zumindest reflektieren, belohnen wir das strategische Denken im falschen Sinn. Wir machen es den „Minimalist*innen“ leicht – jenen Schüler*innen, die stets abwägen: Was bringt mir möglichst viel Ertrag für möglichst wenig Aufwand? Genau diese Haltung ist es aber, die der gymnasialen Bildung diametral entgegensteht. Wir wollen Schüler*innen fördern, die neugierig, gründlich, reflektiert und ausdauernd sind – nicht solche, die das System nur taktisch spielen.
Wer heute mit Strategie statt mit Substanz erfolgreich ist, kann das System elegant für sich nutzen. Doch das darf nicht das Ziel gymnasialer Bildung sein.
Jetzt ist der Moment, innezuhalten und zu fragen:
Welche Art von Leistung wollen wir wirklich fördern?
Und wie stellen wir sicher, dass unsere Maturazeugnisse das auch künftig widerspiegeln?
Kommentar schreiben